Brief an Hannah Arendt, Platon und Karl Marx

Warm-up zum Festival "Club der toten Philosoph*innen: Entfremdung und Unmut"
am 1. Oktober 2024 um 19:30 Uhr Platon (Dr. Till Ermisch), Karl Marx (Prof. Dr. Ulrich Brieler) und Hannah Arendt (Dr. Sonja Schierbaum); Moderation: Dr. Rainer Totzke

Brief des Moderators an die drei toten Philosoph*innen

Liebe Frau Arendt, lieber Platon, lieber Herr Marx,

wo auch immer Sie nach Ihrem irdischen Leben in den letzten Jahren, Jahrzehnten oder Jahrtausenden Ihren Aufenthalt genommen haben: ich weiß, dass Sie die Geschehnisse auf dieser Erde nach wie vor aufmerksam und mit großem kritischen Interesse verfolgen – auch und gerade nach dem „Ende der Geschichte“.

Ich bin sehr froh, dass Sie zugesagt haben, als Warm Up zu dem von uns organisierten Festival „Leipzig denkt: Mut & Unmut“ nach Leipzig zu kommen, um miteinander und mit dem Publikum über das Thema „Entfremdung und Unmut“ zu sprechen.

Wie Sie mitbekommen haben, gibt es hier und heute – zumal im Osten Deutschlands – gerade ein gehöriges Maß an Unmut mit der Politik, mit den herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen und mit der real existierenden Demokratie. Dies äußert sich auch (aber nicht nur) in Wahlergebnissen, sondern auch in einer Vielzahl von teils wütenden, teils nüchtern-beschreibenden, oft vieldiskutierten Publikationen von Literaturwissenschaftlern (Dirk Oschmann: „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“, Historikern oder Soziologen (Steffen Mau: „Ungleich vereint: Warum der Osten anders bleibt“. Was diese Bücher in ihren Thematisierungen und Analysen eint, ist, dass sie den gesellschaftlichen Unmut auch und oft auch explizit mit einem wachsenden Gefühl von „Entfremdung“ in Zusammenhang bringen, welches sich in weiten Teilen der Bevölkerung eingestellt hat/hätte – insbesondere in Ostdeutschland. Inzwischen hat sogar eine sehr bekannte Journalistin und Tagesschausprecherin (mit ostdeutschem Sozialisationshintergrund) ein Buch geschrieben, das den Begriff „Entfremdung“ sogar im Titel trägt (Jessy Wellmer: „Die neue Entfremdung“).

Ich möchte diese Unmuts- und „Entfremdungs“-Erfahrungen, -Konjunkturen bzw. -Debatten der Gegenwart zum Anlass nehmen, um diese gemeinsam mit Ihnen in einen größeren geistesgeschichtlichen Hallraum zu stellen. In einem ersten Schritt werde ich Sie an dem Abend dazu einladen, gemeinsam und ggf. auch kontrovers, darüber nachzudenken, was „Entfremdung“ für Sie eigentlich ist bzw. was der Begriff alles meinen kann, welche vielleicht unterschiedlichen Phänomene sich damit adressieren lassen (und welche ggf. auch nicht?) – bzw. welche anderen, verwandten Begriffe damit in Zusammenhang stehen (gesehen werden sollten). In einem zweiten Schritt (oder je nach Konzept, Gefühl oder Temperament auch gleich von Anfang an) sollte dann auch explizit besprochen werden, wie Entfremdungserfahrungen mit „Unmut“ zusammenhängen (können) – und ob und wie sich welche Formen bzw. Erfahrungen von Entfremdung ggf. abbauen (oder gar abschaffen?) lassen könnten, um auch bestimmte Formen von individuellem oder kollektiven Unmut zu verringern. Das alles sollte – angereichert mit dem einen oder anderen Blick auf die heutige Gegenwart, aber auch auf die jeweilige Gegenwart, in der Sie drei jeweils früher selbst gelebt haben – genug Material für eine brisante Diskussion bieten – zumal ich unser gemeinsames Gespräch auf dem Podium ab einem bestimmten Zeitpunkt auch für Fragen aus dem (sicher zahlreichen und heterogenen) Publikum öffnen werde.

Zum Schluss noch ein paar Gedanken von mir zu der Frage, warum ich ausgerechnet Sie drei für diesen einmaligen Abend zum Thema „Entfremdung und Unmut zusammen eingeladen habe:

Mein lieber Herr Marx: bei Ihnen als explizitem Entfremdungs-, Unmuts- und Revolutionstheoretiker versteht sich die Einladung sicher von selbst.

Mein lieber Platon: Bei Ihnen taucht der Begriff „Entfremdung“ meines Wissens nach kaum in den überlieferten Schriften auf. Trotzdem scheinen Sie mir durchaus eigene biografische Erfahrungen mit der Entfremdung vom demokratischen Gemeinwesen gemacht zu haben, und vielleicht können Sie mit der Rede von „entfremdeten oder entfremdenden gesellschaftlichen Verhältnissen“, wie sie sich bei Herr Marx findet, irgendwie etwas anfangen im Rahmen ihres Nachdenkens über ein gutes Gemeinwesen? Zudem würde mich interessieren, wie Sie nicht nur zu der Entfremdungstheorie von Herrn Marx, sondern auch zu solchen Entfremdungstheorien stehen, die man heute eher ‚konservativ‘ nennen würde, wie sie sich etwa bei Ferdinand Tönnies („Gemeinschaft und Gesellschaft“) finden und wie Sie zu entfremdungstheoretischen Denkansätzen stehen, die eine eher existentialistische Ausrichtung haben – wie die des frühen Heidegger oder die von Sartre oder Camus?

Liebe Frau Arendt! – Sie sind ja nicht nur eine ausgezeichnete – mitunter durchaus auch äußerst kritische Kennerin der „zauberhaften“ Werke von Platon, sondern Sie kennen natürlich auch die Texte und politischen Aktivitäten von Herrn Marx und dessen Nachfolgern bis ins 20. Jahrhundert hinein. Insofern sind Sie ja mit der Entfremdungs-Thematik wie sie sich bei Platon und Marx implizit oder explizit artikuliert, durchaus vertraut. Mich interessiert, am Dienstagabend von Ihnen etwas über das Verhältnis von Entfremdung, Pluralität und Offenheit zu erfahren. In „Sokrates. Apologie der Pluralität“ wenden Sie sich ja ausdrücklich gegen die platonische Versuchung, der Relativität der möglichen Wahrheiten mit der absoluten Autorität eines wegweisenden Denkansatzes begegnen zu wollen. Das scheint mir für die aktuelle Situation von zunehmender gefühlter Entfremdung und sich zunehmend artikulierenden Unmutes in einer Welt von zunehmender (auch medial verstärkter Bubble-isierung) durchaus von Relevanz zu sein. Ich glaube, Sie haben vor vielen Jahrzehnten mal so oder so ähnlich den Satz formuliert: „Das Problem heute ist, dass alle sich im Besitz der absoluten Wahrheit wähnen.“ Ließen sich Ihre diesbezüglichen Gedanken auch auf die heutige Gegenwart anwenden? – Und noch eine zweite Linie Ihres Denkens scheint mir für das Denken der Gegenwart durchaus interessant: Sie sind ja durchaus eine Bewunderin von gesellschaftlichen Unmuts-Artikulationen, die am Ende zu Revolutionen führen. Ich lese immer wieder gern Ihr Buch über die amerikanische Revolution und auch Ihre bewundernden Gedanken für die Idee und Praxisder Rätedemokratie – gegenüber reinen Parteien-Demokratien. Der Soziologe Steffen Mau hat die Ideen von Bürgerräten aktuell gerade angesichts von Unmut und Entfremdung in Ostdeutschland vehement ins Spiel gebracht. Auch in der Friedlichen Revolution 1989/90 gab es „Runde Tische“, die ebenfalls rätedemokratische Elemente in sich trugen. Wie sehen Sie solche radikal- / basisdemokratischen Experimente als mögliche Lösungen für die Überwindung der Krise der Demokratie und für das Zurückdrängen von Entfremdung und gesellschaftlichem Unmut heute?

In Vorfreude auf unser Gespräch
Herzliche Grüße
Rainer Totzke (Mitkurator des Festivals Leipzig denkt: Mut & Unmut“)

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